Zur Diskussion: Die Folgen der Corona-Pandemie

Ein Beitrag von Johannes Horn, München

Aus verschiedenen Gründen geraten die politischen Reaktionen auf die zurückliegende Corona-Pandemie mit ihren Verhaltensvorgaben und Anordnungen ins Blickfeld öffentlicher Kritik. Die damals getroffenen Maßnahmen werden heute zum Teil als zu drastisch, als überzogen und vielfach als nicht verhältnismäßig empfunden und von vielen Seiten heftig kritisiert. Es ist nicht nur legitim, sondern gar geboten, die auf statistischen Erhebungen und wissenschaftlichen Einsichten beruhenden Konsequenzen des RKI und die politischen Reaktionen einschließlich der getroffenen Maßnahmen kritisch zu hinterfragen, um auf zukünftige Pandemien besser vorbereitet zu sein und zu lernen, offensichtliche Fehl-entscheidungen zu korrigieren bzw. sie gänzlich zu vermeiden. Dabei bedarf es einer Menge an Besonnenheit und analytischer Fähigkeiten, um keine Fehlschlüsse und vorschnelle Schlussfolgerungen entstehen zu lassen. Immerhin bedingt das damalige Betroffen-Sein eine völlig andere Sicht auf die viel-dimensionalen Geschehnisse als eine jetzt vorgenommene nüchterne Rückblende gleichsam vom grünen Tisch aus. Auch darf nicht außer Acht bleiben, dass solche vermeintlich sachorientierten Bewertungen nicht ganz frei sein können von verdeckten Interessen und persönlichen Gewichtungen. Wenn der jetzige Finanzminister Christian Lindner sagt, es seien damals schwere Fehler gemacht worden und es sei ein schwerer Schaden entstanden, dann sind das Feststellungen im luftleeren Raum, dazu noch mit tendenziösem Charakter, ohne den Versuch, eine Verbindung zur damaligen Situation herzustellen. Beanstandet werden im Wesentlichen die wiederholt angeordneten Lockdowns bzw. die damit verbundenen Kontaktbeschränkungen. Es handelt sich dabei um eine „Massenquarantäne“ mit dem Ziel, die Ansteckungsrate zu reduzieren und so der Krankheitsausbreitung entgegenzuwirken. Wie sich heute zeigt, hinterlassen die im Rahmen des Lockdowns verhängten Maßnahmen, wie der digitale Schulunterricht, die Favorisierung des Home-Office, wie die Maßnahmen zur sozialen Isolierung (Distanzierung) gravierende Probleme, die mit nicht unerheblichen gesellschaftlichen Belastungen einhergehen. Ganz vorne sind die kritischen Stimmen der FDP, im Glauben, sich parteipolitisch profilieren zu können. Jeder Versuch des Staates, in die private Sphäre des Bürgers einzuwirken, bedeutete einen Makel im Vorzeigeprogramm der FDP. Bei der insgesamt notwenigen kritischen Aufarbeitung darf es nicht um derartige, leicht zu durchschauende Schnellschüsse gehen, sondern um eine subtile Bewertung der jeweiligen Maßnahmen vor dem Hintergrund der chronologischen Abfolge des Pandemie-Geschehens. Dabei geht es in erster Linie nicht um die Frage, welche heutigen Folgeprobleme den jeweils einzelnen Maßnahmen zugeordnet werden können, sondern allein um die Frage, inwieweit die jeweils einzelne Maßnahme im Kontext des Pandemiegeschehens gerechtfertigt war. Die einzelne Maßnahme muss sich dabei an ihrer jeweils belegbaren Effektivität messen lassen. Dazu ist darüber hinaus eine möglichst umfassende und aussagekräftige Beschreibung der gesellschaftlichen und politischen Kulisse erforderlich, vor der sich diese Pandemie abgespielt hat.
Auch wenn die Anfänge der Pandemie in das frühe Jahr 2020 zu datieren sind, dürfen seit 2014 schwelende Unruhen nicht unerwähnt bleiben. Die Gründe ihrer Entstehung sind ebenso wenig treffend zu beschreiben wie die Beweggründe, die sich mit den PEGIDA-Märschen in Dresden verbinden. Zwar war die primäre Demonstrationsabsicht eindeutig (das Akronym bedeutet: Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), doch verwässerte sie in dem Maße, wie sich in die Dynamik der Massenbewegung immer häufiger bizarre Meinungsprofile und rechtslastige politische Ansichten mischten; immer mehr ging dabei das Dezidierte im Lauten unter. Doch es wurde der Boden bereitet für das Entstehen von Meinungsbildern, die sich nicht einfach herleiten lassen, die aber im Nährboden gegenseitiger Ermunterung sprießten und zu eigenwilligen Monstern heranwuchsen. Diese Tendenzen entwickelten sich weiter und waren später auch im Kampfgetöse der Pandemie deutlich spürbar. Manche Phänomene, die irgendwann zu einem weltumspannenden Problem werden, glaubt man in ihren Anfängen eher beiläufigen Begebenheiten zuordnen zu können. Und doch war jeweils in diesen Anfängen bereits das zwingend Neue zu erkennen, so etwa in der Rede des frisch gewählten amerikanischen Präsidenten Trump mit dem triumphalen Leitgedanken: „America first“, was nichts anderes bedeutet als eine kollektive Desintegration. Sie leitet sich ab von der persönlichen bzw. privaten Desintegration, die uns als Egoismus durchaus geläufig ist und eine der größten Schwächen des Menschen beschreibt. Oder denkt man an den jämmerlichen Streit über die Anzahl der Besucher bei den Amtseinführungen von Trump und Obama. Begriffe wie Parallelwelten, „another reality“ eröffneten das Verwirrspiel von „fake“, „news“ und „fake news“ und führten schließlich zur totalen Relativierung der Wahrheit. Wenn Fakten bewusst oder in einer gewissen Opportunität bzw. Gleichgültigkeit in Frage gestellt werden, betritt man den Boden einer völlig neuen und veränderten Ordnung, die nicht mehr wert ist, Ordnung genannt zu werden. Licht und Dunkel durchdringen sich und das eine versagt sich dem anderen. Denn es fehlen Verbindlichkeiten, es fehlt jede moralische Orientierung, jede Verlässlichkeit und jede Vertrauensmöglichkeit. Die Relativierung der Wahrheit und die verschiedenen Formen der kollektiven bzw. persönlichen Desintegration („Wir sind das Volk“) larvieren sich in wachsendem Selbstbewusstsein durch die Probleme der Zeit und sie blühten auf in den Jahren der Pandemie.

Bedauerlicherweise blieb die Impfung ein kontrovers geführtes Thema

Die Diskussion über Sinn und Unsinn der damals getroffenen Maßnahmen kann nicht vorbei an den Bildern geführt werden, die in Norditalien, New York, China und den hiesigen Intensivstationen bleibende Spuren hinterlassen haben. Die Leichen stapelten sich zu Hunderten vor völlig überlasteten Krematorien, Patienten mit entstellten Gesichtern, an Schläuchen und Apparaturen fixiert, rangen um ihr Leben und allzu oft starben sie jenseits von tröstlichen familiären Kontaktmöglichkeiten. Auf den Straßen, an den Arbeitsstätten, in den Familien gab es nur ein Thema: Corona. Gespannt hörte man auf die neuen Todes- und Infektionsdaten. Jeder wusste über neue Entwicklungen, über schmerzliche Verluste, über neue medizinische Stellungnahmen oder politische Entscheidungen zu berichten. An jeder Türklinke klebte die Angst, jede menschliche Nähe wurde ängstlich hinterfragt, jedes Agieren war Ausdruck einer lähmenden Hilflosigkeit. Es fehlte an der Eindeutigkeit verlässlicher Verhaltensrichtlinien, aber auch an profundem Wissen über krankheitsspezifische Details. Von offizieller Seite bedauerte man in den Anfängen das Fehlen eines geeigneten Impfstoffs, beschränkte die Kontaktmöglichkeiten bis hin zum kompletten lock-down, ordnete das Tragen von Masken an und empfahl regelmäßiges Händewaschen. Man muss bedenken, dass man die Eigenarten des Corona-Virus erst kennen lernen und die krankheitsspezifischen Besonderheiten der Erkrankung erst in Erfahrung bringen musste. In Zeiten der Unkenntnis herrscht üblicherweise der Hang zur Polypragmasie; solange man einen Gegner nicht kennt, kann das Handeln nicht zielgerichtet sein. Ebenso einleuchtend ist, dass in solchen Zeiten der Unsicherheit die immer wieder gezeigten Bilder von Tod und Erbarmungslosigkeit Ängste und eine allgemeine Ratlosigkeit entstehen lassen. In das auf den Straßen hintreibende Gedankengut mischten sich neue Töne: Die staatlichen Anweisungen empfand man als Bevormundung bei einer Krankheit, dessen Ursache man als nicht existent betrachtete. Verschwörungstheoretiker, Krankheitsleugner, Systemgegner und der neue Inbegriff des Querdenkers beherrschten das Bild der fahnenschwenkenden Gemüter. In allen Teilen der Bevölkerung waren Unruhe spürbar, Verunsicherung und Ratlosigkeit, neben der Angst, die stets gegenwärtig, drohend und einschränkend das Tagesgeschehen beherrschte. Und die Angst war konkret und existenziell. Auf den medizinischen Institutionen und auf der Politik lastete eine Verantwortung, der man angesichts fehlender Daten zum Pandemieverlauf und fehlender Behandlungsmöglichkeiten kaum gerecht werden konnte. Zur nachträglichen Aufarbeitung des Pandemiegeschehens wird somit die Einsicht gehören, dass man in Zeiten fehlender Klarheit bei allen Entscheidungen auf den gesunden Menschenverstand und auf allgemein gültiges Fachwissen angewiesen ist. Dass sich daraus eine gewisse Divergenz der Meinungen und der Maßnahmengewichtung ableitet, ist unschwer nachzuvollziehen. Dass diese Divergenz begleitet wurde von einer kompletten Relativierung und einer verbreiteten persönlichen Desintegration (Impfgegner, Querdenker), war ebenso bedauerlich wie nachteilig für den Verlauf der Pandemie.
Irgendwann war es dann so weit, der erste Impfstoff wurde zugelassen und mit den Impfungen konnte begonnen werden. Es veränderte sich der Eindruck der schwer lastenden Hilflosigkeit zur Möglichkeit einer gezielten Einflussnahme. Was aber blieb, war die Angst, die Unsicherheit und das laut tönende Geschrei der Eigenwilligen. Bedauerlicherweise blieb die Impfung ein kontrovers geführtes Thema und doch war spürbar, dass der Tod nicht mehr die täglich gezeigten Bilder beherrschte. Die Einstellung zur Impfung zeigt, dass sich in der Gesellschaft ein grundlegender Wandel vollzogen hat. Früher schätzte man sich glücklich, wenn es möglich war, Krankheiten zu beherrschen, wenn es gelang, dem Schrecken einer schnellen Ausbreitung entgegenzuwirken und vielleicht gar einige Krankheiten gänzlich aus dem öffentlichen Bewusstsein zu löschen (Pocken, Kinderlähmung). Heute empfinden manche dieses Angebot als Bevormundung, als Eingriff in die persönliche Daseinsgestaltung. Es ist heute schwerer zu vermitteln, dass jede Impfung, insbesondere bei ansteckenden Erkrankungen, einen gesellschaftlichen Beitrag im Sinne der Solidarität bedeutet. Mit der wachsenden Impfrate sinkt die Rate der Infektionen. Vor diesem Hintergrund werden die Überlegungen nach dem rechten Maß verständlich (Empfehlung, Druck, Zwang?). Es wird nicht leicht sein, die jeweiligen Entscheidungen auf ihre Sinnhaftigkeit bzw. auf ihre Effizienz hin zu überprüfen.

Eine ganze Reihe von Maßnahmen soll auf den Prüfstand

Nun sollen aber eine ganze Reihe von Maßnahmen auf den Prüfstand gestellt werden, mit dem Ziel, ihre Sinnhaftigkeit und ihre Handhabungsmöglichkeiten für vergleichbare, spätere Situationen in Erfahrung zu bringen. Nicht alle dieser Maßnahmen haben zu heute noch spürbaren Problemen geführt, doch einige von ihnen müssen kritisch hinterfragt werden. Noch bevor aber der Verstand zu Wort gekommen ist, melden sich lautstark Mutmaßungen und fertige Glaubensbekenntnisse, die in vollem Umfang die Voraussetzungen der fachübergreifenden Besserwisserei erfüllen. Man muss aufpassen, dass die Kritik an den damaligen Maßnahmen nicht genau so hektisch und atemlos ausfällt, wie es den Maßnahmen damals mitunter anzulasten ist. Der Unterschied zu damals ist ja gerade der, dass sich heutige Analysen und Einschätzungen auf profundes Wissen beziehen können und, lässt man straßenspezifisches Pseudowissen einmal außer Acht, dann wird es im Wesentlichen darum gehen, profundes Wissen nicht von vornherein in Frage zu stellen, sondern dieses für die Erarbeitung belastbarer Ergebnisse zu nutzen. Das Wissen, und nur das, ist schließlich der Wegweiser für eine rationale Aufarbeitung. Daraus folgt, dass die Beurteilung der damaligen Verordnungen und Restriktionen nicht parteipolitisch und nicht ideologisch, sondern zuallererst wissenschaftlich zu erfolgen hat. Es geht nicht darum, festzustellen, ob eine Maßnahme lästig, unbequem oder für den Einzelnen vor- oder nachteilig war, sondern darum, ob sie aus der Sicht der Pandemie notwendig, effektiv und geboten war. In der letzten Annahme wären die Folgen zwar bedauerlich aber im Interesse aller unvermeidlich.
Eine Pandemie ist ein schweres gesellschaftliches Schicksal, welches Ängste, Leid und Tod unter die Menschen bringt. An der Schwere dieses Schicksals ist schließlich die Erleichterung zu bemessen, die mit seiner Überwindung erreicht wird. Der Normalzustand, der vor der Pandemie herrschte, muss Orientierung sein für alle Bemühungen, mit den Folgen der Pandemie fertig zu werden. Alle Folgen der Pandemie jedoch am vorzeitigen Normalzustand zu bemessen, hieße weder die Pandemie noch das Leben verstanden zu haben.


Prof. Dr. med. Johannes Horn
ehem. Chefarzt der Chirurgischen Klinik am KH Harlaching
82031 Grünwald
p.j.horn@t-online.de
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